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Viabilität / Viability

Viabilität ist die große Schwester der Agilität

Agil muss man heute arbeiten. Im Mainstream gibt es darüber nicht die geringsten Zweifel. Deutlich verzwickter wird es jedoch beim Umsetzen dieser Idee: So klar und einfach die Schemen das Agilen Managements daherkommen, so wenig lassen sie sich in vielen Fällen in die Praxis einbauen. Das passiert immer, wenn man bewährte kybernetische Konzepte vereinfacht; solche sind nie komplizierter als nötig und nie einfacher als möglich.

„Agilität“ ist nur die jüngste Schwester eines wesentlich älteren Wegs – der Viabilität. Damit meint man Gangbarkeit, das Passen für ein bestimmtes System in einem bestimmten Zustand in einer bestimmten Situation, die Tauglichkeit im wahren Leben.

So wichtig hohes Tempo, Wendigkeit und Veränderungsfähigkeit heute allgemein sind, in vielen Bereichen waren sie schon immer wichtig, und aus diesen hat man das meiste darüber gelernt, wie man hochkomplex-dynamische Situationen am besten und dauerhaft meistert.

Bei aller erforderlicher Fähigkeit, sich rasch an neue Umstände anpassen zu können, darf eines nicht übersehen werden: Lebensfähige Systeme brauchen nicht nur Variablen, die verwandelbar sind wie Knetmasse. Sie brauchen auch Konstanten, die das System zusammenhalten, ausreichend stabilisieren, seine Identität erhalten und evolutionsfähig machen.

Um solche Konstanten zu erkennen, braucht man belastbare Grundlagen, die sie aufzeigen und begründen. Was hat immer und überall geholfen? Das ist die entscheidende Frage. Um das herauszufinden, darf man nicht Moden nachlaufen, man muss die Vergangenheit erforschen. Solche Grundlagen stehen daher nie für das Moderne, sie stehen immer für Klassiker, das Zeitlose.

Der Ansatz der Viabilität ist nicht modern, aber weit durchdachter als jener der Agilität. Seinen Ursprung hat er in den 1970er-Jahren, inspiriert durch die kybernetischen Erkenntnisse über die Probleme und Chancen im Umgang mit Komplexität und damit mit Wissen, Erkenntnis und Information.

Die für den Einzelnen viel zu intransparente Komplexität und Dynamik der realen Praxis lässt sich am ehesten in multidisziplinären Teams durch ein gezieltes voneinander Lernen überwinden. Doch in diesem Setting kann das, was A mit seinem Fachwissen für richtig hält, für B mit dessen Fachwissen völlig falsch sein. Im erfolgreichen Umgang mit Komplexem kann es also kein triviales richtig oder falsch und kein gut oder schlecht geben. 

Hilfreich ist nur etwas, was für den einzelnen Fall eines größeren Ganzen jeweils viabel ist. Damit meint man jeweils Passendes; synonym kann man auch von jeweils Geeignetem, Machbarem, Gangbarem, Hilfreichem, Lebenstauglichem oder dergleichen sprechen. Jedenfalls von etwas, wodurch etwas insgesamt besser wird. 

Das Konzept der Viabilität darf man also als Kritik des bis dahin allgemein hochgehaltenem Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis verstehen, etwa in diesem Sinne: Wenn etwas aus wissenschaftlicher Sicht auch noch so richtig und/oder gut ist, kann es in praktischen Situationen falsch und/oder schlecht sein.

Anwendungsorientierte Wissensverarbeitung sollte sich also an dem orientieren, was jeweils am besten funktioniert, so schlägt es diese Denkschule der Viabilität vor, die sich Radikaler Konstruktivismus nennt. Zu ihren berühmtesten Vertretern gehören Ernst von Glasersfeld und Paul Watzlawick.